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Gesundheit ist selbstbestimmte Teilhabe am Leben

Das SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. und seine Mitgliedsvereine kümmern sich um Menschen in herausfordernden Lebenslagen. Das sind insbesondere Menschen mit besonderen körperlichen und seelischen Themen. Die Eigenschaften sind bei den einen dauerhafter Natur, bei den anderen sind sie akut und/oder krisenbedingt.

Alle Menschen aus Stadt und Kreis Tübingen, die den Weg in unseren Verein finden, haben sich aus eigenem Antrieb dazu entschieden, ihre Situation selbst in die Hand zu nehmen. Sie haben sich auf den Weg gemacht und möchten ihr Leben verbessern, suchen Gleichgesinnte sowie Zeit und Raum, wo sie sich untereinander austauschen können. Sie suchen Beistand, Beratung und Information.

Menschen in herausfordernden Lebenslagen handeln aber nicht immer rational. Bis der eigene Pfad gefunden ist, laufen sie Irrwege, haben Rückfälle, informieren sich an den falschen Stellen. Gerade zu Beginn brauchen sie menschliche Zuwendung und ein offenes Wort. Eine Telefonsprechstunde genügt dabei nicht. Die Schwelle anzurufen ist oft zu hoch.

Und vor allem brauchen die Menschen eine offene Tür. Diese Tür des SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. war in der aktuellen Lage verschlossen. Sie ist aber ab sofort wieder geöffnet. Dafür haben wir uns in den letzten Wochen eingesetzt und sind der Stadt Tübingen, die sich für die Öffnung stark gemacht hat, sehr dankbar. Die Gründe, warum das SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. diesen Weg geht, verdeutlichen wir im Folgenden.

Gesundheit ist mehr als Überleben und körperliche Unversehrtheit

Die Bundesregierung und die Länder beziehen sich in ihrem aktuellen Handeln auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es ist im zweiten Artikel des Grundgesetzes verankert.

Leben und körperliche Unversehrtheit werden derzeit in der öffentlichen Diskussion dabei nach unserer Auffassung gleichbedeutend mit dem Begriff Gesundheit gesetzt: Es gehe um unsere Gesundheit.

„Gesundheit!“ sagt man im Deutschen, wenn einer niest. „Auf die Gesundheit“ stößt man im Türkischen und in einigen slawischen und romanischen Sprachen an. In manchen Sprachen begrüßt man sich mit einem „Gesund!“ „zdravo!“ – zum Beispiel in Serbo-Kroatisch. In der aktuellen Situation sagt man immer wieder – bleib gesund! Gemeint ist damit die Abwesenheit von dem Virus, das die ganze Welt beschäftigt.

Gesundheit ist ein übermächtiges Argument: Wer will und kann schon gegen Gesundheit sein? Dem gibt es fast nichts entgegenzustellen.

Der Begriff Gesundheit geht zurück auf althochdeutsch „gisunt“: wohlbehalten, lebendig, heil. Lebendig als Kern von Gesundheit ist dabei für unsere folgenden Überlegungen Ausgangspunkt. Wenn ich gesund im Sinne von lebendig bleiben soll – wie in der Grußformel gut gemeint –, stehen aktuell gerade wenig Ressourcen zur Verfügung: Es gibt Kontaktverbote und Abstandsregeln zu anderen Menschen mit hinter Masken verborgenen Gesichtern.

Ausweichbewegungen im öffentlichen Raum verleihen Begegnungen etwas Gespenstisches und Beunruhigendes, Teilnahme und Teilhabe an Kultur, Freizeitaktivitäten oder Sport als Quelle von Lebendigkeit sind extrem eingeschränkt.

So bleibt dürr im Raum stehen: Gesundheit kann in dieser Zeit und Auslegung nur heißen: kein COVID-19 zu haben oder zu bekommen, also Lebendigkeit in ihrer Fülle entbehren zu müssen, um im Sinne des Grundgesetzes Leben (meines und all der anderen) geschützt zu bekommen.

Gesundheit ist fortschreitendes, vollständiges Wohlergehen

Das SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. bezieht sich in seiner jahrzehntelangen Arbeit sehr stark auf einen handlungsorientierten Begriff von Gesundheit. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist für unsere Arbeit Wegweiser und Auftrag: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Eines der wichtigen Konzepte dabei ist für uns der Ansatz der Salutogenese. Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994) verstand es als Rahmenkonzept, das sich auf Größen und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen.

Antonovsky prägte den Ausdruck in den 1980er Jahren als Gegenbegriff zu Pathogenese. Er stellte die Aspekte Verständnis, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit als Gefühle des Zusammenhalts in den Mittelpunkt der Entstehung von Gesundheit. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als statischer Zustand, sondern als dynamisches Geschehen zu verstehen. Risiko- und Schutzfaktoren stehen hierbei in Wechselwirkung.

Gesundheit braucht Quellen, um zu gedeihen und erhalten zu bleiben

Salutogenese beruht auf der Fragestellung: Wie entsteht Gesundheit? Welcher Quellen bedarf es dazu? Wie können diese Quellen stabil verfügbar bleiben? Es ist mehrfach wissenschaftlich bewiesen, dass Menschen, die stabile Kontakte zu ihren Mitmenschen haben, Krankheiten besser wegstecken und dass sie widerstandsfähiger (resilienter) sind. Die Menschen, die ehrenamtlich andere Menschen unterstützen, sind glücklicher. Menschliche Beziehungen sind für unsere mentale und physische Gesundheit unabdingbar.

Antonovskys drei Aspekte spielen auch im Verständnis der Arbeit des SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. eine zentrale Rolle:

  • die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen – das Gefühl der Verstehbarkeit
  • die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit/Selbstwirksamkeit
  • der Glaube an den Sinn des Lebens – das Gefühl der Sinnhaftigkeit

All dies verwirklicht sich in besonderem Maße im direkten Austausch mit anderen (gleichbetroffenen) Menschen und vermag psychische Widerstandskraft sowie Fähigkeiten stärken, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen (Resilienz). Das Gegenteil von Resilienz ist Verwundbarkeit (Vulnerabilität).

Die Arbeit des SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. braucht offene Türen

Das zentrale Anliegen des SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. ist es, Menschen in ihrer Verfasstheit zu erkennen und zu stärken. Mit und von diesem Ansatz sind alle Arbeitsfelder unterlegt und durchdrungen. Daher

  • beraten und unterstützen wir Selbsthilfegruppen
  • stärken wir Selbstvertretung im (kommunalen) politischen Raum
  • vernetzen und stärken wir soziale Initiativen

Hier hilft und veranschaulicht auch das Bild eines Hausbaus: Ich bin Bauherr*in und baue mir ein Zuhause, in dem ich mich wohlfühle, wo ich mich sicher fühle. Dies tue ich selbstbestimmt, und ich gestalte es selber mit sehr vielen unterschiedlichen Bausteinen. Auf der Basis dieses Selbstverständnisses

  • ermöglichen wir wieder direkte und persönliche Kontakte von Mensch zu Mensch in unseren Räumen sowie Treffen von (Selbsthilfe-)Gruppen – und ermutigen Menschen, dies zu tun
  • nehmen wir die persönliche Einzelberatung wieder auf
  • und vernetzen uns zu einem gemeinsamen Erfahrungsaustausch

Wir wollen für uns alle Gesundheit wieder zu einem umfassenden und aktiven Geschehen machen und dafür Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung stärken. Lebendigkeit stellt sich in direkten sozialen Bezügen und Beziehungen her. Dies wollen wir befördern als stabile persönliche Kontakte zu den Mitmenschen.

Abstand wahren geschieht aus Respekt vor dem ganzen Menschen und nicht aus Angst vor einem Virus. Die Gesundheit, die wir einander wünschen und auf die wir anstoßen, ist weitaus mehr als das. Um gesund zu bleiben, brauchen wir Menschen vor allem eins – uns Menschen.

Nachdem auch die Stadt Tübingen ein Signal für die Öffnung des SOZIALFORUM TÜBINGEN e.V. gesetzt hat, eröffnen wir unsere Räume wieder. Das geht nicht ohne ein in der aktuellen Lage gefordertes Hygienekonzept, das wir erarbeitet haben.

Ab sofort sind unsere Räume wieder geöffnet!

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